So much energy - Leyla Yenirce
Leyla Yenirces Arbeit „So much energy!“ arbeitet mit Sound. Und der Sound erinnert an einen Maschinenraum im Film. Rhythmisch schwingend greift Rad um Rad ineinander und die Maschinen arbeiten. Wie ein Uhrwerk. Wie das Blut im Rhythmus des Pulsschlags, angetrieben vom Herz, im Körper der Maschine. Wir erfahren, dass es sich nicht um Generatoren handeln soll, sondern um Panzergeräusche. Digitale Effekte, erzeugt mit Synthesizern und Found Footage Klängen. Elektronische Klänge, die an die Hochzeit der House und Techno-Szene Anfang der 1990er erinnern. Der Zeit des Aufbruchs. Der Wendezeiten.
Begleitet vom Surren der Propeller spürt man in der Arbeit von Leyla Yenirce den Feind nahen, wie von Zeitzeugen und Überlebenden des Genozids im Zweiten Weltkrieg beschrieben.
Mit dem aufkommenden Faschismus, der so mancher Kunst einen Stempel verpasst, der sie als entartet von der Bildfläche verschwinden lässt, „flieht“, besser gesagt flüchtet die Malerin Anita Rée 1933 nach Sylt, wo sie am Ende den Freitod wählt. Zuvorkommend einer drohenden Exekution, infolge der familiären Wurzeln, die man damals willkürlich in einer sehr denkwürdigen Kategorie abgelegt hat: „FALSCH“.
Wer entscheidet was falsch und was richtig ist? Vielleicht ist falsch richtig, vielleicht richtig falsch, oder falsch falsch und richtig richtig,… Wie viele Möglichkeiten gibt es? Mathematische Spielereien über die Psyche des Menschen kommen in den Sinn. - Vielleicht. - Und seit es Menschen gibt wird darauf gewettet, wer sich unter welchen Bedingungen wie verhalten wird. Genau das sieht man auch in der Arbeit von Leyla Yenirce.
Leyla Yenirce versucht den Widerstand gegen den Faschismus nachzuspielen. Versucht in die Rolle der Hamburger Künstlerin Anita Rée auf Sylt zu schlüpfen. Versucht nachzuempfinden wie ausweglos eine Situation sein muss, dass Freitod als einzige Lösung bleibt. Beziehungsweise, versucht zu verstehen, was Menschen dazu bringt Widerstand zu leisten und sich trotz Lebensgefahr nicht unterdrücken zu lassen. Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Gegen Repression. Gegen Diktatur. - Widerstand gegen Unterdrückung. – Zu Zeiten des Nationalsozialismus.
2016 hat Leyla Yenirce das Musikkollektiv One Mother gegründet. Man würde gern fragen, ob es auf der Idee fußt, dass schlussendlich die ganze Menschheit sinnbildlich auf EINE MUTTER zurückblicken kann und vor den unendlichen Zellteilungen, historisch betrachtet, eins war und noch immer ist. Das Zurückblicken auf die Menschheits- und Kultur-geschichtlichen Wurzeln wird zu einem Aspekt erhoben, der einem klar macht, dass wir am Ende alle aus der gleichen Ursuppe stammen.
(Wahrscheinlich. - ? - Vielleicht. ) – Beabsichtigt?
Das visualisierte Experiment der Künstlerin Leyla Yenirce zeigt eindrücklich, wie das eigene Gefühl beim Beobachten fremder Lebensentwürfe stimuliert wird und was allein eine vage Szene auslösen kann, in der nur ein wenig Nacktheit gezeigt wird. Die Beobachtungen aus der Perspektive des Anderen, hinter der Linse, lässt viel Spielraum zum Nachdenken.
Auf einer anderen Ebene von Leyla Yenirces Arbeit befindet man sich mitten IN einer fremden Lebenswelt.
Das Foto, das man mitnimmt, geknipst mit dem Smartphone, die Optik nach außen gerichtet, nicht nach innen, vielleicht beabsichtigt, vielleicht unbeabsichtigt, kein Selfie auf jeden Fall, gibt Einblick in fremdes Leben, mit fremden Ritualen, mit unbekannten Vorlieben und Neigungen.
Beim Blick aufs Smartphone wird man nachdenklich. Ein Photo von der von Leyla Yenirce inszenierten Lebenswelt mit Kalendern unterschiedlicher Jahre aus unterschiedlichen Kulturen und Fotos der vielleicht wertvollsten Dinge, die man besitzt,… ein Smart TV an der Wand, mit eingesteckten Kopfhörern, wahrscheinlich ohne Mikrophon,… Alexa ist vielleicht schon integriert, vielleicht Siri, … die selbstreflektierende, das Selbst überwachende Videoarbeit über die letzten Tage der Malerin Rée auf Sylt vor ihrem Selbstmord, wie ein digitaler Fotorahmen zum Abspielen digitaler Erinnerungen in Endlosschleife,… Fotos geliebter Menschen, die einen geprägt haben und vielleicht noch immer prägen,… Fotos von Ahnen,… vielleicht mit den gleichen Genen,… Fotos der Kinder, denen man versucht Werte und eine Richtung mitzugeben, Kinder, die man moralisch vielleicht auf dem richtigen Kurs halten will, in den Stürmen der digitalen Möglichkeiten….
In der Presseerklärung heißt es: „Yenirce zeigt den schmalen Grat zwischen verklärender Ideologie und widerständiger Emanzipation auf und verbindet, was oft als Gegensatz angenommen wird: Feminismus und Krieg, Popkultur und Genozid, Begehren, Sehnsucht und Ironie.“
Leyla Yenirce, 1992 geboren in Qubin, Kurdistan, hat ihr Studium der Bildenden Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg abgeschlossen und wurde bei der Präsentation ihrer Abschlussarbeit „entdeckt“. Sie ist eine starke Persönlichkeit voller Witz und Esprit. Ihre Arbeit spricht für sich, ihre Art nimmt für sich ein.
Vielschichtig arbeitend, mit Video und Sound, appelliert Leyla Yenirce an ALLE, immer die Energie im Blick zu behalten und einzuschreiten, bevor die Lage zu kippen oder zu eskalieren droht. Mit der eindringlichen Sound-Videoinstallation im Kunsthaus Hamburg beweist sie, wie man Ebenen des Unterbewusstseins anspricht, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Ein Einlassen auf ihre Arbeit kann in ganz andere Sphären entführen. Vielleicht wurde sie inspiriert durch die Arbeit von La Monte Young, Marian Zazeela und Jung Hee Choi, ausgestellt in der Bundekunsthalle in Bonn.
„Gewalt, Zerstörung und Auslöschung werden in der Projektion wehender Haare im treibenden Noise und der aggressiven Dynamik industrieller Propeller widergespiegelt.“ So wird die Arbeit von Leyla Yenirce beim Kunsthaus Hamburg beschrieben. Man hat nicht nachgefragt, aber die an Generatortöne erinnernde Sound-Arbeit von Young, Zazeela und Choi, die Ton visualisiert und an die Wand projiziert, so dass sich eigene Muster ergeben, ist noch immer abrufbar im Gedächtnis. Es war die erste Begegnung mit einer derartigen Soundinstallation. - Wird Leyla Yenirce ihre Arbeiten in die Zeit entlassen können, damit sie in der Ewigkeit weiterwirken können, wie bereits die kontemplativen Arbeiten für Erfahrungsräume aus der asiatischen Kunst? Leyla Yenirces kreatives Potential wurde bereits entdeckt. Jetzt darf man gespannt sein, wie es sich weiterentwickelt.
Leyla Yenirce – SO MUCH ENERGY - Kunsthaus Hamburg
Die Krisenregionen der Welt von innen heraus, aus Perspektive derer zu beleuchten, die darin leben und alltäglich überleben müssen, dabei aber auch das Leben weiterführen wollen, ohne das Leiden alles überlagern zu lassen, immer mit der Angst im Nacken, die falschen Worte zu wählen oder sich nicht regelkonform verhalten zu haben, vielleicht aus Unwissenheit, vielleicht aus bewusster Systemkritik heraus, vermittelt die Diskussionsrunde eindrücklich. Voll geballter Frauenpower. Die Krisen-gebeutelten Menschen haben vielleicht über Jahre einen Weg gesucht dem Leben noch immer zugewandt zu bleiben. Die Vermittlung der Bewältigung dieser Herausforderung ist eine große, und das Kunsthaus Hamburg eine Adresse, die sich dieser Herausforderung hervorragend stellt.
Neugierig geworden?
Noch zwei Termine und Daten und der Hinweis auf die Finissage:
www.kunsthaushamburg.de