artgerecht 10/2021
ARTGERECHT in Karlsruhe, im „Kreativpark Alter Schlachthof“
Kunst sammeln an ungewöhnlichen Orten. So könnte man es auch nennen, was Raiko Schwalbe mit dem Kunstsammler und ART42 Galeristen Attila Kirbas auf den Weg bringt. Die „artgerecht“ im Kreativpark „Alter Schlachthof“ Karlsruhe laden ein das erste Oktoberwochenende 2021 mit neuen Ideen zu füllen. Angeregt durch Kunst in einer der UNESCO CITIES OF MEDIA ARTS.
Es ist das Gelände selbst, das einen sofort mitreißt. Noch bevor die Messe eröffnet wird hat man die Gelegenheit über das Gelände zu „wandeln“ und sich umzuschauen. Man erkennt sofort, hier verweben sich Kunst und Kultur mit Existenzgründung und Wirtschaft zu einem nachhaltigen Leben, das Arbeit und Auszeiten in Einklang bringt. Das Leben quasi als Großprojekt. Ein Gesamtkonzept, dem auch das „GRÜN“ nicht fehlt.
Der seit 2006 stillgelegte städtische Schlachthof wirkt wie ein Mahnmal zur bewussten Lebensführung. Dabei geht es nicht um "Fleischentsagung“ oder einseitige Fokussierung auf einen einzig gültigen Lebensentwurf, sondern um ein Miteinander der verschiedensten Bereiche, in denen auch mal „gechillt“ werden darf. Die interessante Geschichte des Kreativparks findet man gut beschrieben bei WIKIPEDIA, und der ehemalige Schlachthof ist überall präsent. Dass Denkmalschutz einen Sinn hat erlebt man spätestens bei einem Gespräch mit einer Galeristin, die erklärt, dass man im Hinblick auf den Denkmalschutz nur schon bereits existente Bohrlöcher verwenden darf. Für den traditionellen Kunstbetrieb, der klassisch weiße Hintergründe bevorzugt, sind die Gegebenheiten und das Gelände eher schwierig. In der Fleischereibetriebshalle spürt man noch die Zeit, in der hier gearbeitet wurde. Aus einer Zeit, als das Tier ohne jeglichen Wert, als einzig zur Vollverwertung gezüchtet wurde. Zum Verzehr gemästet, geschlachtet, zerlegt und verpackt. Vielleicht noch nicht in jedermanns Bewusstsein gedrungen, … die eigene Verantwortung, die man am Thema „ARTGERECHT“ trägt. Der ein oder andere indes hat begonnen nachzudenken und das eigene Konsumverhalten zu überdenken.
Zum Denken anregen, das ist es was die Kunst kann und soll. Altes zu reflektieren, Neues aufzudecken, die Zeit zu hinterfragen und vielleicht etwas auf den Weg zu bringen, was in die Zukunft wirkt.
Um Gespräche geht es den artgerecht Veranstaltern, ebenso, wie um den Gedanken „ART“ als Investment zu begreifen. ART42 Galerist und Kunsthändler Attila Kirbas und Raiko Schwalbe haben über 50 Künstler und Galerien ausgewählt, die eine interessante und denkwürdige Kunstschau inklusive Live-Events anbieten.
In der Galerie ART42 selbst findet man die Werke von Künstlern wie Mel Ramos, Kukula, Elica Tabakova, und viele andere. El Bocho füllt gar eine ganze Wand mit ostalgischen Werken, wie dem Großformat „I miss my Plattenbau“.
Der Art42-Künstler Georg Pummer ist immer wieder in den verschiedenen Gebäuden zu finden und unverkennbar Pummer!
Im Gebäude Perfect Futur, einem Gebäude, in dem in ausrangierten Schiffscontainern neben der Kunstschau von Existenzgründern weitergearbeitet wird, fällt der Blick auf eines seiner Werke hinter Glas. In einem der Container. Ein Werk das berührt. Ein Mädchen das offensichtlich friert. Hilflos.
Ein Hämmern hallt durch die Atmosphäre. Das Mädchen, das Hämmern, die Schiffscontainer, … man kann sich vorstellen, wie es in einem Hafen zugeht. Laut, voller Geräusche, voller Lärm. Da überhört man vielleicht das ein oder andere. Man muss an den „Tatort“ denken, sonntagsabends, fängt an Querverbindungen zu ziehen, zwischen Erlebtem, Gesehenem, Gehörtem und Gedachtem, realistisch, wie auch phantastisch, wie so oft, wenn man Kunst schaut.
Alter Schlachthof, was für eine exzellente Wahl der Location.
Perfect Futur! – Container als Mahnmal. - Im Gebäude gibt es eine Bar mit nachhaltiger Versorgung. Milchkaffee mit Hafermilch, (wahlweise auch Öko-Biomilch) werden angeboten. Fritz Cola als deutsche Alternative zum Limonadengiganten auf der anderen Seite des Atlantik.
Draußen lädt ein frühlingshaft anmutendes, blühendes Außengelände ein die letzten warmen Sonnenstrahlen des Herbstes zu genießen. Eine Großstadtoase, in der es kleine Nischen für den stillen Rückzug gibt. Aus der Ferne nimmt man Pianoklänge wahr. Wahrscheinlich wird gerade eingestimmt beim Klavierbauer, der sich auch ausrangierten, alten Pianos annimmt, in einer Zeit, in der das nicht elektronische Musizieren keine Bedeutung mehr zu haben scheint. Alles braucht ein E. Sogar die Musik.
Man verfällt den Klängen, verschwindet in längst vergangenen Zeiten. - Die Atmosphäre ist magisch.
Man folgt dem „fernen Klang“ wandelt im Zickzack über das Gelände, über die Straßenbahngleise, die im Grün eingebettet sind und ein Gefühl von Natur, inmitten einer Großstadt bieten. Einer kleinen Großstadt, wie Karlsruhe.
Karlsruhe, die Fächerstadt, eine der UNESCO City of Media Arts, die der Zukunft eine Richtung weisen und auffordern nachhaltiger zu leben und zu arbeiten. Was das bedeutet muss man selbst erleben.
Überall auf dem Gelände sind Sitzgelegenheiten und Rückzugsmöglichkeiten. Die Upcycling-Ideen, längst hoffertig, können als Wegbereiter in die Zukunft verstanden werden. Ausrangiertes bekommt plötzlich einen Sinn über den Begriff DEKO hinaus. Jetzt müssen die inzwischen schon alt gewordenen Ideen nur noch wahrgenommen werden.
Die „artgerecht“ ist ein Gesamtkonzept, das unter einem guten Stern steht. Belohnt mit Sonnenschein und goldenem Herbstwetter am ersten Oktoberwochenende macht die Veranstaltung Mut und Hoffnung für die Zukunft. Kunst, mit der Ambition der Kunst zur Lebensführung. So könnte man es verstehen.
Angekommen beim Pianobauer fällt der Blick auf einen gold angesprühten Mülleimer unter gelb gefärbten, Herbstlaub. - Gold. -Von dem edlen Metall ist auf der „artgerecht“ nur wenig zu sehen. Was für andere Gold, ist hier der Charme des Aufgewerteten. Die Wertschätzung für das, was hinterlassen wurde. Zurückgelassen. Überlassen. Es nicht zu vernichten, um Neues darüberzustülpen, sondern sich immer zu erinnern und nicht zu vergessen, sowohl das Gute, als auch das weniger Gute im Blick, ist die Aufgabe.
Auch die Natur im Fokus erkennt man wo hingeschaut wurde. Natur gepflegt wurde. Gegossen und bewässert. Über die Hitze und Trockenheit der vergangenen Jahre hatte man die Blumen, Pflanzen und Bäume jederzeit im Blick. Die grünen Säcke um den unteren Bereich der Stämme, wo der Baum aus den Wurzeln „emporkommt“, die weiße Farbe auf den Rinden, angemalt, als wolle man Birken nachahmen, schaut man verwundert hin. Ist das Kunst? Wie hält man Bäume am Leben, wenn alles vertrocknet? Bäume, Wald, die Lunge der Natur. Zwischen all den Kunstwerken werden sie nicht vergessen. Es wird auf die stummen Zeugen der Zeit aufmerksam gemacht. Man kommt gar nicht daran vorbei hinzuschauen.
Schräg gegenüber dem Klavierbauer ein prämierter „Lichtentwickler“. Die Vanory GmbH ist GERMAN DESIGN AWARD WINNER 2019.
Mit „Estelle“ wird Einmaliges geschaffen. Estelle ist Lichtkunst und zeigt, dass Beleuchtung mehr ist als einfach nur Schalter an, oder Schalter aus. Im Katalog findet man Headlines wie: „Bewegende Atmosphäre“, „Bezaubernde Stimmung“ und „Verbundenheit und Familie“.
„Innovation und Tradition“, „Vielfalt und Charakter“ und „Smarte Technologie“ werden angepriesen. Eine „Einzigartige Kollektion“ lockt und offenbart die Verbindung von „Leidenschaft und Handwerk“.
Man erfährt, was Beleuchtung so besonders machen kann. Die Vielschichtigkeit und das Arbeiten mit Licht-Gewebe werden auf beeindruckende Art in ansprechendem Design dargeboten.
In den Details erfährt man dann, dass das Lichtgewebe anthrazit mehr als 1 Mrd. mögliche Farben bietet. Wer hat das gezählt? Wer könnte 1 Mrd. Möglichkeiten unterscheiden? Erkennen? - Nano-Kunst! -Und noch während man denkt fällt der Blick auf eine Arbeit der Vielschichtigkeit von Angela Murr, aus dem Atelier Stuttgart, deren Skulpturen Konzept- und Medienkunst, den „unnamed tree“ zeigen.
Werden, Vergehen und Neuentstehen werden als Thema behandelt und die nie endende Neuwahrnehmung des verwendeten Raumes wird veranschaulicht.
Um Wahrnehmung geht es auch in einer der Fleisch-Hallen des alten Schlachthofs. Man kann das Arbeiten der Fleischer fast noch spüren. Das Denkmal-geschützte Gebäude hat einen morbiden Charme, in den die Kunst großartig eingepasst wurde. Hier sind unter anderem Werke aus der Zusammenarbeit von Georg Pummer mit Benjamin Burkart ausgestellt.
Das Ergebnis der Arbeit während der Koproduktion aus dem Lockdown zeigt Hirsch, Mädchen, Reiter, Glitch und Fragmentierung und die violett-grüne Dominanz ist meisterhaft umgesetzt.
Bilder in Acryl auf Leinwand, in Hochformat, schmücken die Wände mit der abblätternden Farbe und füllen die Leere, die das Verlassen des Gebäudes hinterlassen hat. Füllen die Gedanken mit neuem Mut. Mut, weil man die Wachsamkeit in der digitalen Zeit spüren kann. Wachsamkeit. Achtsamkeit. Und man hat bei allen negativen Vorahnungen Vertrauen. Vertrauen in die Zukunft. Vertrauen, weil es da Jene gibt, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, vielleicht auch den Blick vom Smartgerät mal heben und bilderstürmend malen was sie sehen und damit dem Unaussprechlichen eine Stimme verleihen, für all jene hörbar, die es hören wollen, sehbar, die sehen wollen. Sehen können. Und die drei Affen darf man getrost ins Kästchen für Kuriositäten legen. Zu all den anderen Kostbarkeiten an denen man hängt und die Leben mit Erinnerungen füllen, aus denen man schöpft für die Zukunft.
In derselben Halle stellt Karl Orth seine Skulpturen aus. Karl Orth leitet sein Werk mit den Worten ein: EISEN. geschmiedet, geschweißt, geflext. So liest man es auf seiner Seite. Und dann steht man vor Skulpturen, die von allen ausgestellten Werken den größten Bezug zum ehemaligen Zweck der Halle herstellen können. Gerippe mit Resten von Fleisch und Gewebe. Fragmentierte Menschlichkeit. Sich auflösend und zersetzend. In formvollendeter Schönheit. Obwohl. Schönheit ist wohl das falsche Wort. Vielleicht sollte man „in bizarrer Perfektion“ sagen. Nervenfasern werden aufgebrochen, der Körper zersetzt. Das Durchscheinen zeigt den Raum dahinter. Die Figur verschwindet in der Umgebung. Und der umgebende Raum umschließt die Arbeiten zu einem Gesamtkunstwerk, was den Kuratoren hohes Lob zuspielt.
Lob möchte man auch PRSNR aussprechen. Höchstes Lob. Urbane Kunst im öffentlichen Raum, und man denkt an Banksy. Aber wer war gleich Banksy? Vielleicht das Sinnbild für alle da draußen, die wach sind und etwas zu sagen haben. Damit Kunst nicht in dunklen, gekühlten Räumen verschwindet wird sie nach außen getragen und für alle sichtbar gemacht.
Und dann findet man sie. Die kleinen Meisterwerke. Wie die Wandmalereien von PRSNR, so steht es auf der Visitenkarte, und man steht vor einem der Künstler.
Dem Mauerartisten gegenüberstehend, vis à vis, darf man am Werden eines Werkes teilhaben. Sehen, wie seine Schatten in den Augen entstehen. Die Schemen der Gestalten, denen man gegenüber steht. Vielleicht auch sitzt. Auf Augenhöhe. Und vielleicht hat man eine eigene Erinnerung, die man damit verbindet.
Wann, wo, warum? Das darf der Betrachter selbst überlegen.
PRSNR. Ein junger Künstler, 26, der in den Augen von Gesichtern Geschichten schreibt. Aaron Diesbach. So steht es auf seiner Karte. Aaron Diesbach schreibt Geschichten von Gestalten, Geschichten vom Gegenüber, Geschichten von menschlicher Interaktion.
Vor einem der Ausstellungsgebäude scheint die Sonne warm auf den Malgrund und Aaron Diesbach, erzählt von seinem Arbeiten. Die Spraydosen vor der Leinwand geben Anreiz zu weiteren Überlegungen. Extreme Wetterbedingungen haben Bedeutung für Sprayer. Es macht einen Unterschied, ob man in der Wüste sprüht oder auf einem Gletscher. Der Künstler hat mal in einem Video gesehen, dass Leute in der Wüste ihre Dosen vor dem Arbeiten kühlen. Liegen sie in der Sonne steht der Behälter unter Druck. Der Warnhinweis ist auf der Dose.
Das Trocknen in der Sonne geht schnell.
Graffiti-Künstler sollten wissen, wie sich die mit Gas vermischten Pigmente verhalten, um das perfekte Ergebnis zu erzielen. Aaron Diesbach lässt nur manchmal etwas Gas aus der Dose bevor er loslegt. Damit der Druck weniger wird, wenn er Feinheiten sprüht.
Sprayen ist nicht irgendeine Kunst, es ist eine Kunst, in der man sich vor allem mit Gas auskennen sollte. Airbrusher, Lackierer, Graffiti-Künstler, Sprayer, sie alle könnte man fragen, wenn man etwas über die Besonderheit des Arbeitens mit Gas wissen will. Aus ihren Erfahrungen kann man lernen. Ein kurzer Gedanke an die Nachhaltigkeit von Spraydosen darf erlaubt sein. Es ist lange her, dass man über das Ozonloch laut war. Sind die neuen Farben FCKW-frei? Man wird aufgeklärt, dass ja. Inzwischen werden andere Treibgase verwendet. Das Ergebnis ist beeindruckend.
Die Faszination Auge und alles was es kann zu zeigen, das Auge als Tor nach innen, vielleicht Tor zur Seele, denn alles was gesehen wird löst etwas aus, diese Faszination weiterzugeben haben sich viele Künstler zum Ziel gesetzt. Man kann in der Kunst weit zurückgehen und immer wieder die Skizzen von Augen finden.
Die Iris ist einzigartig. Unverkennbar ein Unikat und die Spiegelung des Draußen ist eine Meisterleistung. Der IRIS-Scan ist in vielen Bereichen nichts Ungewöhnliches mehr und jeder Brillenhersteller weiß um die Besonderheit der Funktion des Auges.
Augen und Ohren und ihre Leistungsfähigkeit zu schützen, das hatte schon Kerstin Emrich-Thomas thematisiert. Jedenfalls erinnert man sich an frühere Werke, in denen sie „Party People“ in schrillen Farben, ausgelassen und voller Leben in Bildern in Acryl auf Leinwand verewigte. Die Werke der Künstlerin sind aus der Kunst nicht mehr wegzudenken, immer wieder entdeckt man sie und erkennt ihre Handschrift.
Die Veränderung des Wesens eines Bildes, die Überlagerung durch neue Schichten, eine unverkennbar einmalige Optimierung des ersten Eindrucks, erschafft, neben Kerstin Emrich Thomas, auch Ute Roim.
Allerdings arbeitet Ute Roim bei der entstandenen Vorlage nicht flächig über die existenten Ebenen, sondern von aussen nach innen. Der Kern der Wesen der Bilder in Acryl auf Leinwand wird mit monochromer Farbgebung weiter bearbeitet. Farbe, die eine neue Atmosphäre schafft, wie zum Überzeichnen des Existenten, hin zu einer neuen Gestalt. Die Einfarbigkeit der Einrahmung bringt Ruhe in die Arbeit. Verschwindend inmitten einer neuen Schicht wird das Wesen von außen eingezwängt und an den Umrissen aufgelöst. Man wird erinnert an Negativeffekte und Bildstörungen und Abstraktion gewinnt an Raum. Ute Roim selbst erklärt, auf der Leinwand hat sie die Freiheit zu tun und zu lassen was sie will. Inspiriert von ihrer Fotografie setzt sie das Leben und alles, was sie wahrnimmt, in Szene und setzt vor allem Schönheit und Jugend ein ansehnliches Denkmal. Fotografie und Malerei miteinander zu verknüpfen, sowie Fotografie zu überarbeiten zeichnet die Werke der Künstlerin aus.
Auch die Handschrift von Gudrun Dorsch erkennt man immer wieder. Ihren „Bänderleuten“ begegnet man in der Halle Perfect Futur, eingezwängt zwischen den hoch übereinander gestapelten Containern. Die zu Leben erwachten, wie Mumien wirkende Figuren, bezaubern. Mal in Acryl auf Leinwand, mal auf gebürstetem Metall sind wahre Meisterwerke ausgestellt. Abstrakt tanzend inmitten von Tropfen. Wie aus dem nichts auftauchend. Durchscheinend. Das Licht reflektierend. Wie Wassertropfen. Getrockneter Harz für die Ewigkeit erschaffen. Quasi eingefrorenes Regenwetter. „Dancing in the rain“ geht es einem durch den Kopf. Doch wer tanzt? Die Liebe zum Detail wird vor allem in den jüngeren Werken sichtbar. Und die Perspektive im Hintergrund wirkt bisweilen wie das Tor zu einem Tunnel. Ein Tunnel mit magischer Anziehungskraft.
Unter den Kunstwerken in der Containerhalle des Perfect Futur ist es vor allem Lee Hyun Joung, die durch ihre Arbeiten auf Hanji Papier, ein besonderes Papier ihrer Heimat, aus der farbstarken Vielfalt der zeitgenössischen Kunst heraussticht. Man kennt die Werke der in Paris lebenden koreanischen Künstlerin schon von anderen Kunstmessen und verfällt Lee Hyun Joungs Kunst ein weiteres Mal. Die Werke sind anders. Besonders. Das Papier als Arbeitsgrund ist besonders. Das auf nur eine Farbe reduzierte Arbeiten bietet die Möglichkeit Strukturen auszuarbeiten und Formen darzustellen, auf die man sich schlussendlich besinnen kann. Im Gespräch mit der Künstlerin erfährt man vom Heimweh nach der Heimatstadt Seoul, einer Metropole, die Zukunft prägt und richtungsweisende Impulse gegeben hat. Noch immer gibt. Die Zickzackpfade, oder schlangenlinienförmig angelegten Bergketten, so jedenfalls sieht es aus, was Lee Hyun Joung in traditioneller Weise in Tusche auf Papier bringt, wirken wie Konstrukte aus dem 3-D-Drucker. Die Tunnel wie Grabungen von unterirdisch lebenden Wesen, wie Maulwürfe oder vielleicht auch Schlangen. Die Ruhe der Künstlerin ist Ausstrahlung, welche man vor allem in Asien kennenlernt. Überlegte, bedachte, respektvolle Konversation mit einem tiefen Einlassen auf das Gegenüber. Sie erklärt die verschiedenen Richtungswechsel sind wie der Fluss des Lebens. Immerzu ist alles im Fluss, alles in Bewegung und man wechselt die Richtung je nach Erfahrungen oder Träumen, die mal mehr, mal weniger erfolgreich umgesetzt werden. Die Linien stehen für den Lebensweg. Oder einen Abschnitt des Weges. Die Werke von Lee Hyon Joung sind beruhigende Mutmacher. Hoffnungsträger den Unbekannten in der Zukunft die Stirn zu bieten und nicht zu verzweifeln in den dunklen Phasen des Lebens. Die Reise selbst ist das Ziel. Das Leben die Reise. Von der Weisheit der Lee Hyon Joung darf man lernen. Lernen die asiatische Weltanschauung zu begreifen. Und mit Neugier nachzuforschen, was Asien der westlichen Welt zu schenken hat. Etwas, das vor allem in diesen Tagen wichtig ist. Postpandemische Tage, in der sich der gesamte Globus neu definiert und beginnt über Gesundheit, Krankheit, Konsum, Naturverbundenheit und Mitmenschlichkeit nachzudenken. Wo will man selbst in dieser Zeit stehen? Wie will man den eigenen Lebensweg gestalten? Lee Hyun Joung erinnert daran, sich diese Frage immer wieder aufs Neue zu stellen. Mit den Erfahrungen, die man mitbringt in die Zukunft zu denken. Perfect Futur. Wie wird das Aussehen?
Ähnlich klar wie Lee Hyun Joung arbeitet Anni Rieck, ausgestellt von der chiemgau-galerie augustin, mit der wunderbaren Galeristin Marianne Augustin in einem unnachahmlichen „Look“, der fasziniert. Im ersten Augenblick ist es vor allem die Hose der Galeristin, die begeistert, noch bevor man die Halle zur Kunst betritt. Falten werfender Plissee der Stoff. - Textile Art Space geht es einem durch den Kopf. Erstmals wahrgenommen in Hamburg. Kunst ist auch Mode. Mode gleich Kunst. Und man erfährt, dass die Galeristin Textildesignerin ist. So erklären sich auch die ausgewählten Werke der Galerie.
Anni Rieck mit ihren Arbeiten aus Draht und Papier hat sich der raumumspannenden Formgebung gewidmet. Die Form mit Haut versehen. Papier als Haut. Vielleicht Außenhaut. Papier, wie Gewebe. Das Drahtgeflecht erinnert an die Verflechtung von Stahlmatten vorm Betonieren. Und man weiß um die Arbeit, die dahinter steckt. Doch nicht Stahlbeton wie Gewebe sondern papierumwobener Draht verführen zum Hindenken zu abstrakten Ideen. Erinnern an Reispapierwände und man stellt sich das Licht vor, das durchscheinen kann. Umspannter Raum, geflutet von Licht.
Die Großformate des Künstlers John Schmitz aus München, setzt existenzphilosophische, religionswissenschaftliche und weltanschauliche Erkenntnisse und Annahmen, so die Erläuterungen auf der Seite der Galerie, in seiner Kunst um. Mit Hingabe und in Versenkung spiegeln seine Arbeiten eine tiefe Konzentration wieder, welche in textilanaloger Schlaufentechnik vollendete ineinander verschlungene Achter darstellen, die je nach Dichte neue Muster und Strukturen geben. Bilder, wie der Eindruck von Spiegelung auf weitem Wasser. Man stellt sich vor, wie versunken gearbeitet werden muss, damit eine solch große Arbeit entsteht. Und man denkt an Teppichknüpferinnen an einem mechanischen Hand-Webstuhl, die man einst im Orient beobachten durfte.
Bis hin zum Faden, Spinnfaden, ist es ein langer Weg. Vom Samenkorn, über das Wachsen, das Blühen und Ernten, von alten Pflanzen wie Hanf, oder den hautschmeichelnden wie Baumwolle, oder jüngeren und nachhaltigeren Ideen, denen man im Textilgewerbe nachspüren darf, entsteht schlussendlich Gewebe mit der Fähigkeit zu raumumspannender Form. Allein die Frage nach Natur oder Synthetik bleibt aktuell.
Welches Gewebe kann was? Auch das ein Gedanke, der schon lange bewegt und in der Nachhaltigkeitsdebatte heiß diskutiert wird. Was steht im Einklang mit der Natur? Die Lichtkunst der Vanory GmbH fällt wieder ein. Bereichsübergreifend arbeiten und entwickeln, alles als eins begreifen, das ist eine Idee, die Kunst hier anstößt.
Textilkunst als Konzeptkunst, Bilder, die durch mit Fäden umwickelten Quadern entstehen, auch das hat die chiemgau-galerie augustin im Gepäck. Die koreanische Künstlerin Debora Kim überlässt dem Betrachter den Anblick einer Wand, die wie ein Bild in einzeln aufgelöste Pixel wirkt. Die konkrete Kunst, die in einer Ausstellung linie-raum gezeigt wurde offenbart das Wesen „tiefenräumlicher Illusion“, die im Licht eine leise flimmernde Bewegung vortäuscht. Was haben die Farbkombinationen zu sagen? - Pixelbasiertes Arbeiten in Textilfasern oder Wolle? - Warum nicht.
Wie Pixel aus Containertoren, so wirkt auch die Arbeit von marthe m. leithenmayr. Wieder zurück in der Halle Perfect Futur steht man vor ihren Fotos und schaut. Die Verflechtungen von Wirtschaft und Handel, getragen von der Kunsumbereitschaft der Menschen, werden auf ganz besondere Art veranschaulicht.
Und schräg gegenüber marthe m. leithenmayr Ulrike Balkau, die mechanistische Kopfskulpturen erschaffen hat, wie ausrangierte MenschMaschinen. Roboter, von denen nur noch die Köpfe geblieben sind. Hugo Cabret geht es einem durch den Kopf und man schlägt im Kopf die Brücke zum Kino. Es ist nur ein Bild, das bewegt. Ein Bild, an das der Maschinenkopf erinnert. Ein Bild von einer Maschine, die nicht mehr funktioniert. Was man sieht leitet in der Fantasie zu der Idee von Menschen, die funktionieren müssen wie ein Uhrwerk, weil es die Wirtschaft so verlangt. Weil das Wachstum sonst nicht stattfinden kann, weil die Masse sonst nicht synchron läuft. Vorstellbar werden Menschen, die funktionieren müssen in einem Krieg. Wie ein Uhrwerk. Wo jedes Rädchen seine Rolle spielt und alle ineinandergreifen. Ulrike Balkau bewegt. Die Umsetzung des mechanistischen Weltbildes in einem Kopf, stellt man sich die Skulptur in der Eingangshalle einer Maschinenfabrik vor, ahnt, dass sich Fabrikanten den Roboter schon lange menschenähnlich vorgestellt haben und ist froh, dass die Formgeber noch keine menschliche Formen designt haben. - Hoffentlich. Die Klonkriege waren doch Fiktion, oder hat man ein paar Schritte in der Evolution verpasst?
Textilkunst, internationaler Handel, globale Positionen, Containerschiffe und Konsum … dass Zeit ist zu handeln wissen alle. Nur wohin soll die Reise gehen? Aus der Vergangenheit hat die Künstlerin Briefe des Großvaters auf Metall gebannt. In Sütterlin geschrieben, Briefe aus Russland, aus der Gefangenschaft, in einem Krieg, von dem die junge Generation schon nichts mehr hören will, Briefe, in denen nur geschrieben stand was geschrieben werden durfte. Feldpost. Streng kontrolliert. Zensiert. Die Augen der Herren sind streng. Lassen keinen Verstoß gegen die Regeln gelten.
Mit menschlichen Formen, menschlichen Gestalten, Bewegung und durchscheinender Wirklichkeit auf und hinter Gewebe, hinter seidenzarten Fasern und durchscheinender Stofflichkeit arbeitet Nina Urlichs. Man kommt ins Gespräch mit der Künstlerin, lässt sich entführen in die fantastische Welt der verschiedenen Ebenen und der Idee des Durchblicks auf etwas andere Art. Man erinnert sich später beim Durchstöbern der Künstlerseite im Netz an einen wunderbaren Ausflug an den Besuch einer Station auf der Europäischen Skulpturenstraße des Friedens auf der Wasserburg Reipoltskirchen im Pfälzer Bergland. Dort waren auf langen weißen Leinenbahnen Gestalten in Elementarfarben vor Leinen voller Wäsche aufgemalt. - Kunst bringt bizarre gedankliche Querverbindungen zutage, zeigt aber auch, wie lebendig der menschliche Geist ist und wo er überall nach Entsprechungen für Gesehenes sucht. Wenn auch vielleicht - im Netz hat man keine Antwort gefunden - die Arbeiten von unterschiedlichen Künstlern stammen, so führen sie doch hin zu einem Denken in Richtung Hinterfragen des eigenen Verhaltens. Das Thema Wäsche, gesehen im Pfälzer Bergland und Nina Urlichs „Prayer for the Ozean“, werfen Fragen auf, für die wir als Betrachter Antworten suchen. Nina Urlichs Arbeiten, im Gebäude Futur Perfect, werden unvergessen bleiben. Die in Paris arbeitende Künstlerin aus Nürnberg verdient besondere Anerkennung.
Zurück in der charmant-morbiden Fleischereihalle wird man ebenfalls an das Wort erinnert, das man nicht aussprechen will. - Ölfässer, Geldkoffer, und darüber eine Leinwand von … ja was eigentlich? Das Gesamtkunstwerk erinnert an längst vergangene Zeiten und mahnt. – Das große Umdenken, Neudenken und in die Zukunft wirken ist in vollem Gange. Und auf dem ganzen Gelände setzt die Kunst Akzente. Gibt Impulse, wie es GEMEINSAM funktionieren könnte. Besser! Friedlicher! Harmonischer! Nicolas Noverraz, vertreten durch die justBEE gallery aus Strasbourg, ist ein Genfer Künstler, den man sich merken will. Auf seiner Seite findet man ein Portfolio mit denkwürdigen Titeln wie „Art Pollution“, „Toiles Futs“, „Egouts“, „Hyperréalisme“ oder „Toile Panneaus“ und man schaut genauer hin.
Der Besuch der Kunst Events wie der „artgerecht“ in Karlsruhe sind Einladungen zu Gedankenreisen. Zu Auszeiten und Entdeckungsfeldzügen. Und es verwundert nicht, wenn man am Ende eines jeden Besuches von Kunsträumen erkennt, dass man mit jedem Eintauchen in die Kunst Neues entdeckt und das Sehen und Wahrnehmen erweitert und auch im Draußen plötzlich ehrfürchtig vor dem größten Künstler stehen bleibt: Der Zeit!
Werden und Vergehen, Erschaffung und Verfall, alles ist im Fluss.